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Neuerungen der StPO aus Opfersicht

Die voraussichtlich am 01.01.2024 in Kraft tretende StPO-Revision (nStPO) sieht einige punktuelle Änderungen der Rechte und Pflichten der Opfer vor, welche in der Folge – im Rahmen einer Übersicht – beleuchtet werden.

Fabian Wienert, Rechtsanwalt und Notar

1. Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege (Art. 136 Abs. 1, Abs. 2 lit. c und Abs. 3 nStPO)

Nach dem Wortlaut des geltenden Rechts wird der Privatklägerschaft die unentgeltliche Rechtspflege ausschliesslich zur Durchsetzung ihrer Zivilansprüche gewährt (Art. 136 StPO). Das Bundesgericht dagegen hat einem Opfer die unentgeltliche Rechtspflege auch allein zur Durchsetzung der Strafklage gewährt (Urteil des Bundesgerichts 1B_355/2012 vom 12.10.2012). Diese Rechtsprechung wurde neu in die StPO überführt, indem die Verfahrensleitung dem Opfer für die Durchsetzung seiner Strafklage auf Gesuch ganz oder teilweise die unentgeltliche Rechtspflege gewährt, wenn es nicht über die erforderlichen Mittel verfügt und die Strafklage nicht aussichtslos erscheint (Art. 136 Abs. 1 lit. b nStPO). Ein Rechtsbeistand ist zu bestellen, wenn dies für die Wahrung der Rechte des Opfers notwendig ist (Art. 136 Abs. 2 nStPO). Notwendig heisst, dass besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Natur vorliegen, denen der oder die Betroffene, auf sich selbst gestellt, nicht gewachsen ist, so dass eine sachgerechte und hinreichend wirksame Interessenwahrung nicht möglich ist. Die Frage der Notwendigkeit ist aufgrund der Gesamtheit der konkreten Umstände zu entscheiden. Dazu zählen namentlich die Schwere der Betroffenheit, die tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten des Falles sowie die Fähigkeit, sich im Verfahren zurechtzufinden, dies namentlich mit Blick auf die physische und psychische Verfassung (vgl. Botschaft zur Änderung der Strafprozessordnung vom 28. August 2019, BBl 2019 S. 6735 mit weiteren Hinweisen). Im Rechtsmittelverfahren ist die unentgeltliche Rechtspflege neu zu beantragen (Art. 136 Abs. 3 nStPO). Mit dem neuen Art. 136 Abs. 3 nStPO erfolgt eine Klarstellung und eine Angleichung an die zivilprozessuale Bestimmung von Art. 119 Abs. 5 ZPO.

2. Rückerstattung der unentgeltlichen Rechtspflege (Art. 138 Abs. 1bis nStPO)

Gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts geht Art. 30 Abs. 3 OHG im Vorverfahren und im erstinstanzlichen Verfahren im Verhältnis zu Art. 135 Abs. 4 i.V.m. Art. 138 Abs. 1 StPO als lex specialis vor. Das Opfer und seine Angehörigen dürfen in solchen Fällen nicht zur Rückerstattung der unentgeltlichen Rechtspflege an den Staat verpflichtet werden (BGE 141 IV 262; BGE 143 IV 154). Dieser Rechtsprechung wird im neuen Art. 138 Abs. 1bis nStPO Rechnung getragen. Neu soll die Befreiung von der Rückerstattungspflicht ebenfalls im Rechtsmittelverfahren gelten; dies entgegen der Rechtsprechung des Bundesgerichts (BGE 143 IV 154).

3. Recht auf Zustellung des Strafurteils oder des Strafbefehls (Art. 117 Abs. 1 lit. g nStPO)

Bis zum Inkrafttreten der StPO konnten Opfer verlangen, dass ihnen Entscheide und Urteile unentgeltlich mitgeteilt werden (Art. 37 Abs. 2 aOHG). Die StPO übernahm dieses Recht nicht vollständig. Kein Anspruch auf Informationen über die Beendigung eines Verfahrens steht nach geltendem Recht einem Opfer zu, das sich weder als Privatkläger am Verfahren beteiligt noch die Straftat zur Anzeige gebracht hat (Botschaft, a.a.O., S. 6728). Neu hat das Opfer (wieder) das Recht das Strafurteil oder den Strafbefehl in der Rechtssache, in der es Opfer ist, vom Gericht oder von der Staatsanwaltschaft unentgeltlich zu erhalten, es sei denn, es verzichtet ausdrücklich darauf (Art. 117 lit. g nStPO).

4. Mitteilungspflicht des bevorstehenden Verfahrensabschlusses (Art. 318 Abs. 1bis nStPO)

Die geschädigte Person hat das Recht, sich bis zum Abschluss des Vorverfahrens als Privatklägerschaft zu konstituieren (Art. 118 Abs. 3 StPO). Dies bedingt jedoch, dass sie Kenntnis von diesem Recht hat. Das Gesetz sieht deshalb in verschiedenen Bestimmungen Informationspflichten der Strafbehörden vor (Art. 118 Abs. 4, Art. 143 Abs. 1 lit. c und Art. 305 Abs. 1 StPO [für Opfer]). Vor Abschluss der Untersuchung statuiert das geltende Recht eine weitere Mitteilungspflicht. Diese Informationspflichten sind Ausfluss der strafbehördlichen Aufklärungs- und Fürsorgepflicht, die sich wiederum aus dem Anspruch auf ein faires Verfahren (Art. 3 Abs. 2 lit. c StPO) ableiten lassen.

So hat die Staatsanwaltschaft den Parteien mit bekanntem Wohnsitz schriftlich den bevorstehenden Abschluss mitzuteilen und bekannt zu geben, ob sie Anklage erheben oder das Verfahren einstellen will; dies unter Ansetzung einer Frist, um Beweisanträge zu stellen. Erlässt die Staatsanwaltschaft einen Strafbefehl, so besteht keine Mitteilungspflicht (Art. 318 Abs. 1 StPO). In der Lehre wird die Ansicht vertreten, dass Geschädigte, die sich bislang noch nicht als Privatkläger konstituiert haben, auf die entsprechende Frist hinzuweisen sind (Schmid/Jositsch, StPO Praxiskommentar, Art. 118 N 3a; Landshut/Bosshard, in: Donatsch/Hansjakob/Lieber, StPO Komm., Art. 318 N 4a; BSK StPO-Steiner, Art. 318 N 3).

Ausgehend vom Gesagten sieht der überarbeitete Abs. 1bis nStPO vor, dass nur noch gegenüber denjenigen geschädigten Personen, die bislang noch nicht über ihre Rechte (insb. das Recht sich als Privatklägerschaft zu konstituieren) informiert worden sind, eine zusätzliche Mitteilungspflicht vor Abschluss der Untersuchung besteht. Diese Pflicht gilt – anders als bei Abs. 1 – auch vor Erlass eines Strafbefehls. Denn gerade im Bereich des Strafbefehlsverfahrens besteht die Gefahr, dass sich geschädigte Personen nicht rechtzeitig als Privatklägerschaft konstituieren können; dies insbesondere dann, wenn die Staatsanwaltschaft sofort einen Strafbefehl erlässt (Art. 309 Abs. 4 StPO). Die Mitteilungspflicht für diese Konstellationen drängt sich auch deshalb auf, weil die Staatsanwaltschaft im Strafbefehlsverfahren neu über Zivilforderungen entscheiden können soll (Art. 353 Abs. 2 StPO). Die Mitteilungspflicht gilt neu nicht nur für Opfer, sondern für alle geschädigten Personen; dies aus Gründen der Rechtsgleichheit. Wie bei Abs. 1 erfolgt die Mitteilung nur gegenüber von Geschädigten, deren Wohnsitz bekannt ist. Hat die geschädigte Person bereits ausdrücklich auf die Beteiligung als Privatklägerschaft verzichtet, so besteht keine erneute Mitteilungspflicht (Botschaft, a.a.O., S. 6759).

5. Bezifferung und Begründung der Zivilklage (Art. 331 Abs. 2 zweiter Satz nStPO)

Nach geltendem Recht kann eine Zivilklage auch erst im Parteivortrag begründet und beziffert werden. Das kann sowohl die beklagte Partei als auch das urteilende Gericht vor Schwierigkeiten stellen, weil sie sich mit einer grossen Zahl von Belegen und komplexen zivilrechtlichen Fragen konfrontiert sehen, deren Prüfung einer gewissen Zeit bedarf. Deshalb soll die Bezifferung und Begründung der Zivilklage neu innert der gleichen Frist wie für das Stellen von Beweisanträgen erfolgen (Botschaft, a.a.O., S. 6729 f.).

6. Entscheid über Zivilforderungen im Strafbefehlsverfahren (Art. 353 Abs. 2 nStPO)

Gemäss geltendem Recht kann im Erwachsenenstrafprozess – anders als im Jugendstrafprozess (vgl. Art. 32 Abs. 3 JStPO) – im Strafbefehl nicht über Zivilforderungen entschieden werden. Soweit die beschuldigte Person die Zivilforderung anerkennt, wird dies im Strafbefehl vermerkt. Nicht anerkannte Forderungen werden auf den Zivilweg verwiesen (Art. 352 Abs. 2 StPO). Neu wird die Staatsanwaltschaft gemäss Abs. 2 Zivilforderungen im Strafbefehl beurteilen können, sofern folgende Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind: Zum einen muss die Zivilforderung auf tatsächlich ausreichend geklärten Verhältnissen basieren, das heisst, ihre Beurteilung muss ohne besondere Umstände möglich sein. Zum anderen darf der Streitwert nicht höher als CHF 30'000.00 sein (Botschaft, a.a.O., S. 6762 f.).

7. Einsprachelegitimation im Strafbefehlsverfahrens (Art. 354 Abs. 1 lit. abis und 1bis nStPO)

Neu sieht lit. abis von Abs. 1 vor, dass die Privatklägerschaft explizit zur Einsprache legitimiert ist. Dies muss umso mehr gelten, weil neu im Strafbefehlsverfahren über gewisse Zivilforderungen entschieden werden kann. Gemäss Abs. 1bis ist die Einsprache der Privatklägerschaft – analog Art. 382 Abs. 2 StPO – hinsichtlich der ausgesprochenen Strafe jedoch ausgeschlossen.